Psychische Gesundheit im Fokus

Wie spreche ich Jugendliche an?

Es ist immer häufiger die Rede von Jugendlichen mit psychischen Störungen, die Medien berichten – spätestens seit der Corona-Pandemie – vermehrt über den Anstieg von psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen und von voll besetzen kinder- und jugendpsychiatrischen Institutionen.
Eine Frau schaut nachdenklich in die Ferne

Zahlen belegen, dass 50% der psychischen Erkrankungen vor dem 18. Lebensjahr beginnen und 75% vor dem 25. Lebensjahr. Wie sieht die Praxis aus? Fragen an Flavia Keller-Zemp. 

Flavia Keller-Zemp: In welcher Form arbeiten Sie mit Jugendlichen zusammen?

F.K-Z.: Ich bin Lehrerin für Sozialwissenschaften am Fach- und Wirtschaftsmittelschulzentrum Luzern. Meine Schülerinnen und Schüler besuchen die Fachmittelschule oder die Gesundheitsmittelschule und sind zwischen 15 und 20 Jahre alt. Zudem bin ich Teil des Help-Point-Teams unserer Schule, welches ein niederschwelliges Beratungsangebot für Lernende in Problemsituationen ist. Neben meiner Arbeit als Lehrerin bin ich als selbständiger Coach tätig und berate Menschen im pädagogischen Kontext. Dazu gehören auch Jugendliche, die sich im schulischen Umfeld in einer Problemsituation befinden.

Menschen mit einer psychischen Störung erleben aus meiner Sicht immer noch eine gewisse Stigmatisierung und empfinden dadurch oft Scham und Selbstzweifel.
Flavia Keller-Zemp

Wie erfahren Sie die Entwicklung in Bezug auf die Wahrnehmung der Wichtigkeit von psychischer Gesundheit bei Jugendlichen (und auch bei Erwachsenen) im Allgemeinen? Und was fällt Ihnen dabei in Bezug auf die heutige Realität (Thema «Erkrankung» von Jugendlichen) auf?

F.K-Z.: Die Wahrnehmung in der Gesellschaft und das Bewusstsein, dass das Thema «Psychische Gesundheit» wichtig ist, hat meines Erachtens zugenommen. Trotz dieser Enttabuisierung erleben Menschen mit einer psychischen Störung aus meiner Sicht immer noch eine gewisse Stigmatisierung und empfinden dadurch oft Scham und Selbstzweifel. Ich behaupte, dass es heute noch einfacher ist zu sagen «ich leide unter einer körperlichen Beeinträchtigung», als «ich leide unter Depressionen». Aber auch aus Sicht der Aussenstehenden erlebe ich eine Hemmung. So frage ich eine Schülerin eher, ob sie Hilfe braucht, wenn sie hinkend ins Schulzimmer kommt, als wenn ich Anzeichen für eine mögliche psychische Problematik vermute, aus Angst ihr zu nahe zu treten. Diesbezüglich hat mir der ENSA-Kurs des Roten Kreuzes geholfen. Es fällt mir nun leichter, auch psychische Auffälligkeiten anzusprechen. 

Das Thema psychische Gesundheit ist auch bei uns Lehrpersonen wichtiger und präsenter geworden. So stand beispielsweise der letzte «Tag der Luzerner Mittelschullehrpersonen» unter dem Titel «Psychische Belastung in der Adoleszenz». Wir Lehrpersonen sind uns der Thematik zunehmend bewusst und wissen um deren Wichtigkeit. Ich spüre jedoch bei mir, wie auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen eine gewisse Hilflosigkeit. Die Gesundheit der Jugendlichen liegt uns am Herzen, gleichzeitig haben wir nur wenige «Werkzeuge» zur Hand, um diese zu verbessern. Aber das Bewusstsein, dass auch wir in der Schule einen Beitrag leisten können, ist auf jeden Fall da. 

Welche Erkennungszeichen nehmen Sie in Ihrem Berufsalltag wahr, wenn eine jugendliche Person psychische Probleme hat?

F.K-Z.: Die Anzeichen, die wir im Unterricht wahrnehmen können, sind sehr unterschiedlich und sowohl von der Persönlichkeit wie auch von der Art und der Intensität der psychischen Probleme abhängig. Oft fallen Veränderungen im Verhalten auf, sei dies durch häufigeres Fehlen im Unterricht, tiefere Noten, weniger Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen in der Pause oder passiveres Verhalten. Offensichtlicher sind Zeichen von Selbstverletzung z.B. an den Armen oder auffällige Gewichtsveränderungen. Auf unserer Schulstufe sind solche Veränderungen oft nicht sofort erkennbar, weil wir die Lernenden je nach Fach nur 1-2 mal pro Woche sehen. Lehrpersonen auf der Volksschulstufe sehen die Lernenden über einen längeren Zeitraum und häufiger, was das Erkennen problematischer Situationen möglicherweise erleichtert.

Zudem ist die Adoleszenz eine sehr vulnerable Phase im Leben eines Menschen. Nicht alle Jugendlichen, die etwas niedergeschlagen wirken, leiden bereits an einer psychischen Erkrankung. Manchmal sind es Sorgen oder Probleme, die fast alle Jugendlichen kennen. Auch diese sind ernst zu nehmen, haben aber längst nicht alle pathologische Folgen. Wichtig finde ich, dass Jugendliche (und Kinder) lernen, mit Problemen umzugehen. Es ist unsere Pflicht als Pädagoginnen und Pädagogen, Kindern und Jugendlichen nicht alle Probleme aus dem Weg zu räumen, sondern mit ihnen Möglichkeiten zu finden, diese Probleme zu lösen. Die Erkenntnis, ein Problem selbst erfolgreich gelöst zu haben, lässt Kinder und Jugendliche Selbstwirksamkeit erfahren. In diesem Zusammenhang ist mir auch das Thema Resilienz sehr wichtig.

Wenn es einer Schule gelingt, ein Klima der Wertschätzung und des Vertrauens aufzubauen, können Probleme viel eher angesprochen werden.
Flavia Keller-Zemp

Wie können eine Schule und ihre Lehrpersonen dazu beitragen, die psychische Gesundheit ihrer Schülerinnen und Schülern positiv zu beeinflussen?

F.K.-Z.: Wie gesagt – die Entwicklung von Problemlösestrategien kann die psychische Gesundheit von Jugendlichen fördern. Dies kann im Unterricht, im schulischen Alltag oder an Projekttagen thematisiert werden. Ein weiterer Aspekt ist die Beziehungsarbeit zwischen Lehrpersonen und Lernenden, aber auch die Beziehung unter den Lernenden selbst. Wenn es einer Schule gelingt, ein Klima der Wertschätzung und des Vertrauens aufzubauen, können Probleme viel eher angesprochen werden. Die Möglichkeit für gesundheitsfördernde Massnahmen sehe ich auch im Sportunterricht. Bewegung ist bekanntlich ein wichtiger Aspekt für die psychische und die physische Gesundheit. Dazu kommt die Förderung einer positiven Haltung gegenüber dem eigenen Körper und gegenüber der eigenen Person. 

Noch nicht thematisiert haben wir hier den Einfluss der sozialen Medien auf die Psyche der Menschen (nicht nur der Jugendlichen). Für die Schule ist diese Thematik nicht einfach – wir stehen zwischen den Anforderungen der Wirtschaft, die Jugendlichen für die digitale Welt fit zu machen, und gleichzeitig müssen wir sie vor den Gefahren dieser digitalen Welt schützen. Das Vermitteln eines bewussten Umgangs mit sozialen Medien und digitalen Geräten ist sicher zentral

Das Help-Point-Angebot, welches der Kanton Luzern an vielen Berufsbildungszentren und auch bei uns am FMZ etabliert hat, trägt ebenfalls zu einer besseren psychischen Gesundheit bei. Das Ziel ist, dass Lernende bei einer Help-Point Beratungsperson ihrer Wahl in einer geschützten, aber vertrauten Umgebung Probleme ansprechen können – im besten Fall, bevor es eskaliert oder pathologisch wird. Wenn Jugendliche psychologische oder psychiatrische Unterstützung brauchen, zeigen wir ihnen auf, welche Fachstelle für sie hilfreich sein kann und begleiten sie bei Bedarf im Anmeldeprozess. 

Welchen Tipp würden Sie Lehrpersonen (oder Betreuenden von Lernenden) geben, damit sich Schülerinnen und Schülern in einem für ihre Psyche guten Umfeld entwickeln können?

F.K.-Z.: Tipps oder Ratschläge zu geben, finde ich immer schwierig. Jede Schule hat ihre eigene Schulkultur und eigene Lösungsansätze, je nach Stufe und Gemeinde. Mir helfen Inputs von aussen, wie der ENSA-Kurs des Roten Kreuzes oder die Referate von Jugendpsychiatern wie ich sie am Tag der Mittelschullehrpersonen erleben durfte. Ich glaube, dass das echte Interesse am Wohlergehen der Jugendlichen und das Interesse an ihnen als junge Menschen wichtige Faktoren sind. Dazu soll und darf ich nicht zu einer Kollegin der Jugendlichen werden, sondern zu einer professionellen Bezugsperson ausserhalb der Familie, die den Jugendlichen zu spüren gibt, dass ihre Ideen und Pläne aber auch ihre Sorgen und Ängste gerechtfertigt sind. 

Was konnten Sie aus dem Besuch des Kurses «Erste Hilfe für psychische Gesundheit – ensa Fokus Jugendliche» mitnehmen?

F.K.-Z.: Der Kurs und das Kursbuch haben mir gewisse Hemmungen und Ängste im Umgang mit dem Thema genommen. Einzelne Aspekte, wie das Verwenden von Ich-Botschaften oder offenen Fragen, kannte ich zwar bereits. Durch die Anwendungsübungen und die Diskussionen in der Gruppe wurde mir aber die Wichtigkeit solcher Kommunikationsstrategien wieder bewusst. Ein weiterer hilfreicher Aspekt sind die Adressen zu Unterstützungsnageboten und Institutionen zu den jeweiligen Krankheitsbildern und Problemsituationen. Auch das ROGER-Modell in Anlehnung an das alte «GABI-Modell» aus der ersten Hilfe finde ich praktisch und hilft mir als Eselsbrücke. 

ROGER

Reagiere: ansprechen, einschätzen, beistehen

Offen und unvoreingenommen zuhören und kommunizieren

Gib Unterstützung und Information

Ermutige zu professioneller Hilfe

Reaktiviere Ressourcen

Kurs: Erste Hilfe für psychische Gesundheit

Der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter ist für alle Menschen eine besonders empfindliche Phase. Die körperlichen, neurobiologischen, kognitiven und psychischen Veränderungen, denen Jugendliche unterworfen sind, können sehr herausfordernd sein. Psychische Schwierigkeiten treten auf, die sich längerfristig auswirken und das spätere Erwachsenenleben massgeblich beeinträchtigen können. Im zweitätigen Kurs werden u.a. Grundwissen bei verschieden psychischen Problemen und Krisen bei Jugendlichen und die Anwendung der 5 Schritte der ersten Hilfe vermittelt. Auch das Erkennen und Einschätzen von psychischen Problemen und Krisen bei Jugendlichen wird behandelt. Dieses Angebot findet in Zusammenarbeit mit Pro Mente Sana statt. Es gibt ein adaptierte Version für  Erwachsene durchgeführt.

Nächste Kursdaten:

Für Jugendliche: 19./26. Oktober 2024 oder 11./ 18./ 25. März, 1. April 2025

Für Erwachsene: 6./ 13./ 20./ 27. November 2024